Texte
Gedanken zu einigen Arbeiten von Salome Haettenschweiler

Fragilität und Faktizität oder von der Selbst-Behauptung der Form im Raum

Auf den ersten Blick wirken die objektplastischen ebenso wie die malerischen Arbeiten von Salome Haettenschweiler wie von scharf konturierten „reinen Formen“ geprägt. Erst allmählich beginnt das betrachtende Auge, das die Oberflächen bestreift oder tastend umrundet, Unschärfen, Rundungen und Weichheiten wahrzunehmen und die scheinbar festen Gestalten beginnen sich ebenso aufzulösen wie die Gewissheiten über ihre Klarheit und ihre Wesenhaftigkeit. Man könnte ihre Formensprache „archaisch“ nennen, da sie im ersten Hinsehen einfach erscheinen, doch wird eine solche Beschreibung ihrer komplexen Rätselhaftigkeit und den enormen assoziativen Räumen, die diese Gebilde erschließen können, in keiner Weise gerecht.
Vielmehr ist ihre vorgebliche Simplizität ein Beziehungsangebot, eine zartfühlende Bitte an den Betrachter, nicht nur das Objekt mit seinen Eigenschaften als „Ding“ wahrzunehmen, sondern auch seine Bezugnahmen im Raum und seine den Umraum prägenden Wirkungen zu entdecken. Die Schlichtheit ist dabei ein Schlüssel, um die Sinne des Betrachtenden zu öffnen und ihn für seinen individuellen Gedankenreichtum und die jeweils eigene Erinnerungs- und Empfindungswelt empfänglich zu machen.
Dabei dokumentiert die äußere Erscheinung der „Dinge“ den Schwung und die Energie, die in die schaffende Hand geflossen ist und zeigen die Spuren der Gedanken, die dem Material seine Form abgerungen haben. Schichten von Gipsbinden, die einem Alltagsrelikt eine neue Gestalt geben, sind nicht nur Hilfsmittel zur Heilung im Alltagsleben, sondern auch Materialien zur Stabilisierung von zerbrechlich gewordenen Erinnerungsfragmenten, die damit eine neue Macht der Identität gewinnen.
Salome Haettenschweilers Arbeiten sind „Hand-Werke“, deren äußere Erscheinungen den Prozess ihres Entstehens zeigen, dokumentieren und nachvollziehbar machen. Die „allmähliche Formung des Dings beim Bilden“ schafft ein „Gemachtes“ („factum“), das ein Erlebtes und Empfundenes in seiner labilen und fragilen Veränderlichkeit festigt und ins Sichtbare bringt. Die „Selbst-Behauptung“ des Artefakts stimuliert das „Selbst-Bewusst-Werden“ des Betrachtenden. Etwas Schöneres ist nicht zu denken.
Dr. Brigitte Hammer
Berlin, im Mai 2020